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Heilung im Spiegel der Präsenz

Ich bin zu einer Focusing-Sitzung mit einer meiner Focusing-GefährtInnen verabredet. Als ich an der Reihe bin, um mich in der Präsenz meiner Begleiterin einem aktuellen Thema zuzuwenden, geschieht Folgendes:

Moving in

Während ich den Felt Sense zu meinem Thema erforsche, nehme ich ein starkes Vibrieren um meine Schultern, Oberarme und Hände wahr. Dies teile ich meiner Begleiterin mit, die mir mit fast denselben Worten spiegelt, „dass ich ein starkes Vibrieren um meine Schultern und Hände erfahre“. (Sie hatte darauf verzichtet / vergessen auch meine Oberarme zu erwähnen, die von dem Vibrieren betroffen waren). Und dann geschah zu meiner großen Faszination Folgendes: Sowohl meine Schultern als auch meine Hände schienen noch stärker in den Vordergrund meiner Aufmerksamkeit zu rücken, wodurch das Vibrieren an diesen Stellen noch stärker wahrzunehmen war, während ich meine Oberarme plötzlich kaum mehr spüren konnte. Das Staunen über diesen direkten Zusammenhang, den das Echo meiner Worte auf meine körperliche Erfahrung bzw. meine Wahrnehmung hatte, in Kombination mit meiner jahrzehntelangen „Forschungsreise“ zu dem in sich verwobenen Themenkomplex rund um „Heilung, Bewusstsein & Beziehung“ lies mich innehalten und weiterforschen… Ich wollte mich dem Thema des „Spiegelns“ noch etwas genauer zuwenden.

Going deeper

Meine nächste Focusing-Sitzung, eine Woche später, widme ich also dem Thema „Spiegeln“. Gleich zu Beginn taucht aus einer wortlosen Tiefe ein Bild von einem Baby auf. Etwas in mir fühlt sich sehr zart und verletzlich an und da war die Sehnsucht einfach nur gehalten zu werden, ganz sanft. Ich lasse dieses „verletzliche Etwas“, das noch keine Worte hat, spüren, dass ich es wahrnehme und sehe vor meinem inneren Auge, wie ich das Baby in den Arm nehme… Sofort entspannt sich etwas in mir und wird ruhig, fühlt sich „gesehen“ – auch wenn es für diese lang zurück liegende Zeit als Baby keine bildhaften Erinnerungen gibt, so fühlt sich doch etwas in meiner Tiefe durch meine eigene Präsenz und die meiner Begleiterin wahrgenommen. Dies bildet sich vor meinem inneren Auge so ab, dass das Baby in dem direkten Körperkontakt Halt erfährt und sich auf diese Weise überhaupt erst spüren kann / sich seiner selbst bewusst wird. Etwas in mir versteht in der Tiefe, dass es sich erst durch diesen Halt in seiner Existenz gespiegelt erfährt und dadurch „wissen“ kann, dass es existiert. Nun scheint ein Bild aus dem nächsten zu erwachsen … Wie beim Blick durch ein Kaleidoskop zeigt sich mir, wie das Prinzip des Spiegelns sich auf so vielen Ebenen des Lebens wiederholt: Wie ein Ich zum Ich wird durch das Du und durch das In-Beziehung-Sein sich selbst erfahren und so erst leben kann.

Etwas in mir erinnert sich an die grausamen Lebensumstände, die Waisenkinder unter der Herrschaft Ceausescus im sozialistischen Rumänien erleiden mussten. Diese Babys und Kinder wurden ohne das geringste emotionale Beziehungsangebot und unter prekären Umständen sich selbst überlassen. Die meisten dieser Kinder starben in der Regel an den Folgen dieser herzzerbrechenden Vernachlässigung und dem Mangel an Halt-gebender Zuwendung. Kurz: Sie starben an Beziehungsmangel.

Es war Emmi Pikler (Emmi Pikler u. a.: Miteinander vertraut werden. Arbor Verlag, Freiamt 1994), die bekannte Kinderärztin und Begründerin der sogenannten Pikler-Pädagogik, die für ihren beziehungs-sensiblen Pflegeansatz bekannt wurde. Sie entdeckte, dass in einem Kinderheim in Budapest, auch trotz geringer zeitlicher Ressourcen die Kinder sich gut entwickeln konnten, wenn sie zumindest während der Zeit, in der sie gefüttert und gewickelt wurden, aufmerksam in ihrer Gefühlslage, ihrem Tempo und ihrem Ausdruck gespiegelt wurden und so eine herzliche Zuwendung erfuhren. Auf diese Weise haben sich die Babys und Kinder in Beziehung erfahren und in der Präsenz eines liebevollen Erwachsenen gehalten und gespiegelt gefühlt. Dies hat ihnen – im Gegensatz zu den Kindern in den rumänischen Kinderheimen – ermöglicht, am Leben zu bleiben und sich gut entwickeln zu können.

Carrying forward

Wie auf einer Zündschnur tauchen weiter Bilder auf … Ein innerer Raum nach dem anderen öffnet sich … Schmerz taucht auf über essentielle Erfahrungsräume in meiner eigenen Kindheit, in denen ich keine Spiegelung erfuhr … ohne ein Gegenüber … nicht gesehen / gehört / gefühlt worden zu sein … und so der Rückschluss entstanden ist, nicht verstanden / nicht wahrgenommen zu sein … ein Nicht-Verstanden-Sein, das in der Einsamkeit wurzelte, die durch die Nicht-Reflexion erwachsen war.

Doch hier und jetzt: Gehalten und gespiegelt in der Präsenz meiner Focusing-Gefährtin, die meist still und doch ganz wach meinen Prozess bezeugt, zuhört und hin und wieder mir Essentielles „zurücksagt“.

Shift

Da geschieht ein Ausatmen und etwas in mir kann loslassen, einfach weil es (sich von mir und ihr) wahr-genommen fühlt. Ich bin da. Ich bin. Und da ist ein Verbunden-Sein in mir und mit ihr.

Gerade geschieht ein Spiegeln, ganz jenseits der Worte … Einfach gemeinsam DA-Sein, ganz schlicht … und wie schön! Es erlaubt mir, mich selbst wahrzunehmen. Meine eigene Präsenz im Spiegel ihrer Präsenz zu erkennen. Es geht nicht darum gleich denken / glauben / fühlen / handeln / spüren zu müssen – es braucht nur ein Anerkennen von dem, was sich gerade zeigt und wahrgenommen werden will. Freiheit.

Crossing

Und da beginnt eine Amsel ihr wunderschönes Lied zu singen. Und eine zweite antwortet auf dieselbe Weise. Es entfaltet sich ein Dialog zwischen diesen beiden Vögeln, der so tief berührt, als würde die ganze Welt zum Stillstand kommen und nur noch der Amsel-Dialog erklingen. Und sie singen von der Stille und erzählen von der tiefen Süße und der Wehmut und auch vom Glück.

Coming out

Als ich nach dieser halbstündigen Reise wieder „auftauche“, erinnert sich etwas in mir an ein Zitat von Meister Eckhart, einem Mystiker aus dem 13. Jahrhundert, der von drei Stufen des Gebets gesprochen hat: Der Bitte – dem Dank – und der Stille. Präsenz als lebendige Stille – im Gegensatz zu einer toten Stille / einem Nicht-Gegenwärtig- Sein – ja, das ist wohl die tiefste Art der Spiegelung, eben ganz ohne Worte … dann, wenn sich das Sein im Sein das anderen begegnet und erkannt fühlt.

Deine Cristina Maier

Cristina Maier ist studierte Kultur- und Sozialanthropologin, hat Ausbildungen in Systemisch-dialogischer Prozessbegleitung (Dialog-Akademie), Existentiell-spiritueller Therapie (Berliner Institut für tiefenpsychologische und existentielle Therapie), Systemischer Aufstellungsarbeit (Hannah Gaugler, Siegfried Essen), Focusing (Ruth Sar-Shalom), Somatic-Experiencing – Traumaheilung nach Peter Levine; Inspiriert durch den eigenen langjährigen Weg der Meditation, Selbsterforschung und Bewusstseinsarbeit, liebt sie es Menschen in Einzel-und Gruppenarbeit zu begleiten und heilsame Räume zu eröffnen, die Menschen verbinden und aus ihren eigenen Tiefen schöpfen lassen. 

Bild von Cristina Maier